Der Himmel wird blauer jeden Tag
Wie wir älter werden und doch heiter bleiben können.
Heiter bleiben im Alter ist absolut alternativlos. Warum? Weil wir sonst untergehen in all den kleinen altersbedingten Gemeinheiten, die uns nicht nur der Körper, sondern vor allem auch die Psyche bereithält, wenn sie schwächer werden. Das Alter schleicht sich geräuschlos an: hier ein eiternder Zahn, dort die erst unverständliche Lust auf bequeme Schuhe, hier die Haut, die mehr Creme und Pflege will, dort der verunsicherte Blick auf die ganzen Vorsorge-Maßnahmen, die in den Wartezimmern unserer Internisten, Gynäkologen, Orthopäden und Hausärzten aushängen. Darmspiegelung? Echt, muss das jetzt sein? Hautscreening? War ich zu viel in der Sonne? Prostatauntersuchung? Wirklich jährlich?
Ignorieren hilft nicht
Parallel meldet sich die Psyche – ignorieren hilft nix – die Nerven werden schwächer, die Gereiztheit steigt, die Lärmempfindlichkeit meldet sich und die Fähigkeit volle Busse und brüllende Kleinkinder zu tolerieren, nimmt merklich ab. Verabredungen werden anstrengender und nach einem Discoabend gibt’s geschwollene Knie. Im Hinterkopf schleicht sich die Frage ein ob eine „Was will ich noch erleben“-Liste sinnvoll wäre. Und gefühlt, werden Fragen wie „Hast Du eigentlich eine Patientenverfügung?“ öfter gestellt. Plötzlich gibt es nicht nur eine nächste Generation, sondern sogar schon eine übernächste. Meine Freundinnen gehen Enkelchen streicheln, andere empfehlen mir dringend die Anschaffung eines Hundes, weil auch die Mann-Frau-Beziehungen mühsamer und mühsamer werden.
Wenig hilfreich, ist die Vogel-Strauß-Nummer. Ich beobachte sie tatsächlich bei Männern noch öfter wie bei Frauen. „Ich werde älter? – Na und! Davon merke ich gar nix – und wenn: Ich ignoriere das einfach.“ Es ist schon eine arge narzisstische Kränkung, wenn der Körper in die Breite geht, die Haare weiß werden und der Aufwand, den man/frau meint betreiben zu müssen bevor er/sie aus dem Haus geht, um möglichst so auszusehen wie vor 20 Jahren, immer zeitintensiver wird. Der Rücken tut weh? Das geht schon wieder weg. Die Hose wird zu eng? Ich werde den Gürtel festschnallen, auch wenn’s weh tut. Ich brauch schon wieder ne neue Brille? Macht nix.
Wenn die Psycho-Stoßdämpfer rosten
Am unangenehmsten fand ich – worauf mich kein Mensch vorbereitet hatte – dass die Psyche ihre Stoßdämpfer verliert, d.h. alles was meine Seele – aus gutem Grund, denn sie wollte mir immer helfen mit dem täglichen Leben fertig zu werden oder zumindest mich vor einer Überdosis an Widrigkeiten zu schützen – erst mal im Unterbewussten verstaut hatte, nun ans Tageslicht drängt. Kurz gesagt: es kann passieren, dass mir frühkindliche Neurosen um die Ohren fliegen. Von jetzt auf gleich. Verdrängungskompetenz und Stressresistenz nehmen im Alter deutlich ab, und Schwupps, kriegen wir einen Schreikrampf an der falschen Stelle oder einen Wutanfall, der seine Ursachen in einem 60 Jahre zurückliegenden Event hat, aber jetzt – Mist immer diese Trigger! – unbedingt ans Tageslicht will. Das kann extrem anstrengend sein.
Demenzforscher empfehlen: zwei mal am Tag eine Stunde Meditation um mit diesem Stress fertig zu werden. Was sie noch empfehlen war erwartbar: kein Fleisch, Bewegung, Intervallfasten, Muskeltraining und soziale Kontakte pflegen – denn: wir sind Kleingruppensäugetiere, für die allein sein ungesunder Stress bedeutet. Wenn Karl Lagerfeld im hohen Alter sagt: „Ich kenne keinen Stress, ich kenne nur Strass“, dann ist das witzig, kokett und sicher seiner preußischen Erziehung geschuldet. Die Wahrheit kann es nicht sein, denn auch Karl der Große musste mit dem Nachlassen seiner Kräfte irgendwie umgehen.
Wir sind die einzigen Tiere, die wissen, dass ihre Lebenszeit begrenzt ist. Damit müssen wir umgehen. Das ist die Herausforderung. Hilfreich ist es sicher, sich im hier & jetzt festzuhalten und trotzdem verschärft den eigenen Gefühlen zu vertrauen, ohne sich verrückt zu machen, also z.B. sich mal im örtlichen Turnverein nach Seniorensport umzuschauen um den Körper lange genug beweglich zu halten. Und: Tanzen! Tanzen! Tanzen. Das schüttet launehebende Neurotransmitter aus.
Und es ist auch keine Schande Komödien zu kucken, wenn die Nerven die ganz schweren Thriller nicht mehr aushalten. Seid gut zu Euch selbst!
Ohne Humor geht nichts!
Natürlich braucht man fürs Altern jede Menge Humor! Ohne ihn und der nach oben offenen Awareness-Scala geht gar nichts. Ohne werden wir vollautomatisch zu griesgrämigen Nörglern, die sich von ihren Zipperlein ins Boxhorn jagen lassen und vor lauter Neid auf die Jugend schimpfen: „früher war alles besser“. Ohne Humor werden wir wie beleidigte Kinder, die heimlich meckern, dass das Leben nicht so gelaufen ist, wie sie sich das vorgestellt hatten. Ohne Humor und stetig erworbenes Bewusstsein lassen wir uns von den Knieschmerzen den Tag verderben und schauen muffig aus der Wäsche.
Wir werden auch langsamer. Nicht nur körperlich auch in der Fähigkeit, mit Widrigkeiten umzugehen, die psychische Verarbeitungszeit wird länger. So what! Dann nehmen wir uns die Zeit dafür! Unsere Welt wird dadurch etwas kleiner. Das macht aber nichts, denn sie wird dadurch auch deutlich intensiver! Noch nie hab ich einen Wald so intensiv gesehen. Noch nie war ich von einer Wolkenformation so hingerissen. Noch nie hab ich eine Blume so genau beim wachsen beobachtet.
Ist die aufgezwungene Entschleunigung etwa der ultimative Bewusstseinshebel?
Sting und die Poesie
Der Witzbold Harald Schmidt hat den Begriff vom „Alten-Sack-Syndrom“ erfunden, bzw. für sich geprägt. Das meint die Unlust die 7. Antigone-Inszenierung zu sehen, das achtundzwanzigste Weinfest zu besuchen oder das zehnte „White-Dinner-Event“. Wir haben es gehabt. Und wir müssen es auch nicht mehr kommentieren, geschweige denn bewerten. Es ist vorbei und das ist gut so.
Andre Heller spricht vom „Auszittern“, das er sich jetzt zum Lebensabend seufzend gönnen kann und wofür er glücklicherweise ein wunderbares Ambiente in einer warmen Gegend, mit freundlicher Genehmigung des marokkanischen Königs, bauen konnte.
Durchatmen und reflektieren: Was haben wir alles erlebt!
Mein absoluter Liebling in Sachen „Das Alter annehmen und dabei auch noch Charme und Poesie verströmen“ ist der unglaubliche englische Sänger Sting. Ihm gelingen Sätze wie:
There are times when a man needs to brave his reflection,
And face what he sees without fear,
It takes a man
to accept his mortality,
Or be surprised by the presence of a tear.
(aus: „I love her, but she loves some one else“)
Er beschönigt nichts, denn ja, Melancholie und Abschied nehmen, sind auch da. Bügeln wir sie nicht unter den Teppich, sie haben ihre eigene Schönheit. Der Himmel wird blauer jeden Tag, weil wir ihn intensiver wahrnehmen. Im Alter gibt es nicht mehr so viele Tage auf die wir das verschieben könnten, also mach wir es jetzt, jetzt, jetzt.
Und weil´s so schön ist noch ein bisschen Sting:
When a man of my age shaves his face in the morning,
Who is it that stares back and greets him?
The ghost of his father long dead all these years?
Or the boy that he was,
still wet in the ears?
Or the terrible sum of all of his fears,
In the eyes of this stranger who meets him?
(aus: „I love her, but she loves some one else“)
oder auch Charlie Chaplin:
„Als ich begann mich selbst zu lieben, habe ich aufgehört, nach einem anderen Leben zu verlangen, und konnte sehen, dass alles, was mich umgab, mich einlud zu wachsen.
Heute nenne ich es Reife.“
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